Tapete 2.0: die Zukunft der Projektlogistik
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Tapeten fristen heute ein Schattendasein. Nicht so in der Raffinerie Schwechat. Dort ist die Tapete nie aus der Mode gekommen, denn sie hat praktischen Nutzen. Dekorative Muster sucht man vergebens. Die Tapeten sind hier riesige, weiße Papierbögen, mit denen ganze Container ausgekleidet werden. Bei großen Projekten schaffen sie den Überblick über hunderte, parallel laufende Aufgaben. Jedoch macht die Modernisierung auch hier nicht halt: Es ist Zeit für die Tapete 2.0 – eine Software, mit der komplexe Arbeitsprozesse in der Projektlogistik präzise erfasst werden können und die den Arbeitstag wesentlich vereinfacht.
Das Gesetz schreibt vor, dass für die Anlagen einer Raffinerie alle sechs Jahre eine Generalüberholung, ein sogenannter Turnaround, fällig wird. Ist es wieder mal soweit, stoppt die Raffinerie die Produktion. Sämtliche Apparate werden geöffnet, gereinigt, kontrolliert und falls notwendig instandgesetzt. Um das zu schaffen, treten bei so einer Generalüberholung rund 3.500 Arbeiterinnen und Arbeiter an und erledigen in einem Monat das beeindruckende Pensum von rund 600.000 Arbeitsstunden. Aber wie behält man bei so einem Mammutprojekt den Überblick?
Vom Papier zum Touchscreen
Früher funktionierte das mit der sogenannten Stopp-Tapete, abgeleitet vom Stopp im Raffineriebetrieb. An allen neuralgischen Punkten fand man während dem Turnaround kleine Containerdörfer. Einige dieser Container waren mit großen Papierbögen austapeziert. Darauf war die gesamte Projektlogistik ersichtlich. Neben jeder Aufgabe waren die notwendigen Einzelschritte sowie die zuständigen Personen erfasst. Wurde ein Punkt erledigt, musste der Verantwortliche unterzeichnen. Mit dieser Methode wurde über Jahrzehnte sichergestellt, dass keiner der etwa 50.000 Arbeitsschritte eines Turnarounds vergessen wird.
In Zeiten von Smartphones, Tablets und Datenbanken sind allerdings Alternativen zur Tapete naheliegend. Stefan Krebich und sein Team haben es sich zur Aufgabe gemacht, die klassische Stopp-Tapete durch eine digitale Version, dem „Coordination Board“, zu ersetzen: „Das Coordination Board ist der Papierversion exakt nachempfunden. Hauptakteure sind hier nach wie vor Montagefirma, Reinigungsfirma, unsere Inspektionsabteilung und unser Operations Personal.“
Wahrlich eine komplexe Aufgabe für das Team, denn es mussten „digitale Dolmetscher“ entwickelt werden, die es ermöglichen, verschiedene Datenquellen miteinander zu vernetzen. „Wir haben es geschafft, alle Daten im selben IT-Standard miteinander zu verknüpfen, eine entsprechende Benutzer-Oberfläche zu entwickeln und auch sicherzustellen, dass das ‚Coordination Board‘ entsprechend schnell arbeitet“, so Roland Ladengruber, der gemeinsam mit Stefan Krebich am neuen System arbeitet.
Über die Touchscreenstation, den PC oder auch einfach über das Tablet oder Smartphone – mit dem neuen Coordination Board kann man auf sämtliche Daten, Pläne und Zeichnungen direkt vom jeweiligen Arbeitsplatz aus zugreifen.
Stefan Krebich, OMV Turnaround Manager & Project Manager Coordination Board
Alles, jederzeit und von überall
Die Nutzerinnen und Nutzer können mit einem Klick den Status, sämtliche technischen Daten, Pläne und Zeichnungen einsehen, die zum gerade aufgerufenen Apparat hinterlegt wurden „Ein wesentlicher Vorteil der digitalen Tapete ist, dass wir über drei Zugangsarten Daten abrufen können. Zum einen über die Touchscreenstation vor Ort, zum anderen über den PC und die dritte Möglichkeit ist das Tablet oder Smartphone. Man hat so die Möglichkeit, direkt vom Arbeitsplatz aus die Daten in das System einzugeben und alle Informationen oder Pläne einzusehen, die man gerade benötigt“, erklärt Stefan Krebich.
Bitte anmelden!
Ganz oben im Pflichtenheft der Software stand auch, dass sich dieses komplexe System vom Anwender nicht nur schnell, sondern auch intuitiv bedienen lässt. Von der Inspektionsabteilung und den Betriebsverantwortlichen der OMV bis zu den externen Montage- oder Reinigungsfirmen soll jeder mit der grafischen Bedienoberfläche zurechtkommen. „Wir wollten eine Benutzerführung gestalten, die angelehnt an Technologien, die man vom Smartphone kennt, auf einfachen Knopfdruck die gewünschten Informationen liefert“, so Roland Ladengruber. Das Suchen von bestimmten Daten auf den A3 Papierbögen in mehreren Containern am Gelände ist somit dank der vielfältigen Filter und Suchmasken passé.
Besonders komfortabel ist die Anmeldung am System vor Ort gelöst. „Wir haben uns überlegt, was hat jeder beim Turnaround immer dabei? Seinen Helm! Jeder Helm hat einen personalisierten RFID-Tag bekommen. Wenn ich bei einer Station meinen Helm zum Scanner lege, bin ich automatisch im System eingeloggt und kann sofort in meine Apparateliste springen und den Letztstand meiner Aktivitäten sehen“, so Stefan Krebich. Den Helm wieder aufgesetzt und schon ist man ausgeloggt.
Natürlich freut man sich, wenn man erkennt, dass die harte Arbeit entsprechende Früchte trägt und die Arbeitsabläufe dadurch revolutioniert werden.
Roland Ladengruber, OMV Department Manager SAP Purchasing & Maintenance
Bewährungsprobe bestanden
Den ersten Test hat die digitale Tapete bereits beim Turnaround 2016 der Raffinerie Schwechat im Zuge der Wartung der treibstoffproduzierenden Bereiche bestanden. Aus dieser Praxis konnten die Entwickler viel lernen und die Kinderkrankheiten eines so komplexen Systems identifizieren. Beim diesjährigen Turnaround im petrochemischen Bereich der Raffinerie konnte sich das „Coordination Board“ von April bis Juni bereits in einer überarbeiteten Version bewähren. „Ich glaube, wir sind auf einem zukunftsweisenden und sehr innovativen Weg, der selbstverständlich auch woanders angewendet werden kann und da ist man schon stolz“, so Roland Ladengruber.
Die Zeiten der Papier-Tapeten sind durch das „Coordination Board“ bald gezählt. Aber gleichzeitig darf Entwarnung für die Zunft der Tapezierer gegeben werden, Stefan Krebich und seine Kollegen arbeiten nicht an einem digitalen Nachfolger der Raufasertapete – noch nicht.